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Ja - und dann...
 
  Die Leute sagen, Buchhändler und Apotheker seien wunderlicher als andere Menschen.

   Nun - ich bin Buchhändler und der Apotheker ist mein Freund. Und mein Freund, der Apotheker hat tatsächlich so seine Eigenart. Er ist ein „Stufendenker“, das heißt kein kühner Springer, kein Bogenspanner des Geistes, sondern das genaue Gegenteil. Bei aller Lebhaftigkeit und Emsigkeit vollzieht sich sein Denken und Handeln in lauter kleinen Absätzen, immer hübsch der Reihe nach, Schrittchen für Schrittchen. Für diese Schrittchen hat er eine sprachliche Formel: „Ja - und dann …“. „Ja“ - das bedeutet, mit der eben erklommenen Stufe bin ich fertig; „und dann“ - ich hüpfe weiter. Diese Eigenart ist nicht eigentlich unsympathisch, ein bisschen umständlich zwar, aber sie hat doch etwas Systematisches, Allgemeinverständliches, und - sie ist eine Glucke geschäftlichen Erfolges - wieso? - das will ich euch schildern.

   Vor etlichen Wochen plagte mich eine scheußliche Erkältung an der nichts fehlte: Heiserkeit, Husten, Kopfweh, Schlaflosigkeit. Schließlich trieb es mich zu meinem Freund, den Apotheker. Ich ging ohne Hemmung durch den Laden in seine Alchemistenküche - Büro und Laboratorium zugleich. Ich bin sein Freund, ich darf das.

   „Guten Morgen“, krächzte ich, „scheußlich erkältet, du musst mir helfen“ und streckte ihm meine Hand hin.

  Er nahm sie nicht, wehrte ab, führte das Taschentuch an den Mund und - hustete erbärmlich. „Ich auch“ stöhnte er. „Kann kaum sprechen, ja - und dann dieser Husten, der richtet mich zugrunde, ja - und ein Kopfweh zum Zerplatzen, ja und dann natürlich die ganze Nacht kein Auge zugetan -“.
 
   Ich schüttelte den Kopf: „Du - eine derartige Erkältung, als Apotheker, im Besitz aller erdenklichen Hilfsmittel - -“.

  „Unachtsamkeit, mein Lieber, nichts als Unachtsamkeit, ja - und dann dieses Wetter, das drückt ja die Menschheit geradezu in die Erkältung hinein, ja -  und dann das Reden, du musst ja in meinem Geschäft fortgesetzt reden, immer wieder reden; ja - und dann die Kundschaft, jeder Kunde der in den Laden kommt, ist heute ein Gepäckträger des Hustenbazillus; ja - und dann - seine Stimme bekam plötzlich etwas Entschlossenes - aber du hast recht. Ich muss etwas dagegen tun. Sofort muss ich etwas dagegen tun. Entschuldige mich bitte für einen Augenblick.“

   Er lief zur Tür und rief Fräulein Jutta. Fräulein Jutta ist der Apothekenlehrling. Ich benutzte die Unterbrechung um mich hemmungslos auszuhusten. Auf dem Tisch vor mir bemerkte ich eine Sammlung von Packungen, Flaschen, Prospekten und Plakaten - alles für oder genauer gesagt gegen Erkältungskrankheiten. Ich verstand nichts von dem, was mein Freund mit Fräulein Jutta besprach. Schließlich kam er wieder zu mir zurück.

  "Ja - und dann wollen wir mal deiner Erklärung auf den Pelz rücken. Du kommst zur rechten Zeit. Guck hier, auf dem Tisch eine prächtige Kollektion für alle Erkältungskrankheiten - fürs Schaufenster bestimmt. "

  „Also da nimm zunächst diese Pillen hier: 'Präservamint' - eigentlich schon ein bisschen zu spät, sie sollen vorbeugen, abwehren - nun immerhin, neue Bakteriengeschwader rücken heran, pausenlose Offensive, da sind diese Pillen die Wachtposten, die Panzersperre, das unfehlbare Schild ‚Eintritt nicht gestattet’. Mit den vorher Eingedrungenen wirst du auf andere Weise fertig."

 "Ja - und dann die Heiserkeit. Dafür gebe ich dir die alt-beliebten Lehmannol-Bonbons -, Lehmannol tut jedem kranken Halse wohl’ - eine prächtige Komposition des seligen Kollegen Lehmann - unübertrefflicher Rachenputzer seit Jahrzehnten. Hier - probier’ mal einen - ich empfehle dir die billige Kilopackung. Was du nicht selbst lutschst, schenkst du den Kindern, die bei dir ihre Schulhefte kaufen als Zugabe, machst dich bei ihnen beliebt damit und förderst die Volkshygiene."

  "Ja - und dann die Brust, die arme hustengeplagte Brust: Da hilft eine Flasche ‚Kodakeinsyrup’ - hochgezüchtetes Erzeugnis der pharmazeutischen Industrie, zähflüssig, angenehm süß, überzieht die zerfurchten und zerkratzten Atmungswege mit einem sanften, schmeichelnden Schutzfilm, gewissermaßen, versteht sich, und macht es der schwer ringenden Lunge wieder leicht, unfehlbar, sage ich dir."

   Hier musste er einhalten, und mühsam, von einem rauen Husten gequält, Luft schöpfen. Seine Stimme wurde ernst, sehr ernst:

   "Ja - und dann brauchst du ‚Thoraxvulkanit’-Tabletten. Es wäre ja alles halb so schlimm, wenn nicht eine furchtbare Gefahr im Hinterhalt läge: Fieber, Lungenentzündung - ja - und dann.“ Er hielt inne, machte ein schlimmes Gesicht, hob warnend die linke Hand. Düster - feierliche Stille trat ein, keiner hustete. Ihr könnt euch wohl denken, was wir da gedacht haben. Ich sage nur das eine Wort: Sarg. -

   Dann legte er stumm die Rolle Thoraxvulkanit-Tabletten zum Übrigen und fuhr in alter Lebhaftigkeit fort:

  "Ja - und dann: Natürlich musst du schwitzen. Keine Angst, keine großen Umstände mehr wie ehedem. Da helfen dir jetzt ganz einfach die ‚Lieben klugen Jungfrauen’ - - ."

   „Was? Lieben klugen Jungfrauen? Sag’ mal willst du mich auf den Arm nehmen?“

  „Was heißt hier, auf den Arm nehmen.  'Die Lieben klugen Jungfrauen' - das sind sieben Kräuter-Jungferlein, von einem erfahrenen Naturheilkundigen zu einem Tee von höchster Wirksamkeit zusammengestellt, den musst du ganz heiß nehmen und dann ins Bett und gut zugedeckt, eine Revolution geht da mit dir vor, kann ich dir sagen, und nach einigen Stunden bist du frei, frei, völlig frei …“.

   Mir schien, die sieben Jungfern brachten ihn schon in Schweiß, indem er sie mir anpries.

   "Ja und dann, unter uns gesagt: Die Ärzte können ja ganz gut, aber die Naturheilkundigen noch viel besser.“

   „Was?“

  Meine Frage machte ihn plötzlich ganz verlegen. Er stutzte, als ob er auf seiner Gedankentreppe einen Fehltritt getan hätte oder wenigstens ein wenig ausgeglitten wäre. Aber er fasste sich schnell:

  „Nun - eben das. Ja - und dann, dann will ich dir auch endlich wieder zu deinem Schlaf verhelfen. Hier hast du eine kleine Packung 'Dormabella'. Damit können sie dich aus der Stadt heraustragen ohne dass du aufwachst. Und wenn du Glück hast - sein Antlitz verklärte ein süßes Geheimnis - träumst du sogar etwas sehr Schönes. Aber, mein Lieber, davon gebe ich dir nur 10 Stück - nicht angewöhnen"- seine Stimme wurde wieder energischer - "ja - und dann, ein gesunder und ordentlicher Mann hat es nicht nötig zu träumen. Also!“

   „Ja - und dann, was macht uns denn überhaupt so anfällig für Erkältung, Influenza, Grippe? Vitaminmangel! Das lernt heute ja jedes Kind in der Schule. Im Sommer, wenn der Rhabarber fünf Pfennige kostet, gibt’s keine Erkältung, im Winter hilft dir heutzutage der Apotheker. Da haben wir hier das ausgezeichnete 'Vitaminpotential Super'. Jede Pille hat ungeschwächt die Vitamine von zwanzig Zitronen. Stelle dir vor: Zwanzig Zitronen! Kannst du zwanzig Zitronen auf einmal essen? Nein, ich auch nicht, kein Mensch kann das! Und nun schluckst du eine einzige kleine Pille und hast zwanzig Zitronen. Die brauchst Du natürlich wie dein täglich Brot, bis der Rhabarber wieder sprießt. Ich packe dir eine Kleinpackung von hundert Stück ein. Ja - und dann, wenn du wieder Rhabarber hast, nicht abkochen, gleich so reinbeißen, meinetwegen mit neun Stückchen Zucker."

  „Ja - und dann.“

  Hier zögerte er und seine Augen suchten auf dem Tisch herum, fand er den Absprung nicht zur nächsten Stufe? Da sprang ich schnell dazwischen: „Halt!“, rief ich, „nun rechne mal zusammen. Ich denke das langt vorerst, will mal sehen, wie weit ich damit komme.“

  Mein Freund sah mich wie zweifelnd an. „Gut“, sagte er dann, griff zum Bleistift und kollationierte und addierte auf der Rückseite eines Prospektes von Vitaminpotential-Super. Wir hüstelten beide. Lehmanns Lehmannolbonbon schmeckte übrigens abscheulich und nahm kein Ende. Ich transportierte ihn in die andere Backentasche. „Ja - und dann machte es neunundvierzig Mark fünfunddreißig“. Ich sagte gar nichts. Ich hustete nur. Das konnte im Moment unmöglich missverstanden werden. Und zückte einen Fünfziger. Mein Freund rief Herrn Mager. Herr Mager ist sein Provisor. „Ziehen Sie bitte 49,35 ab. Ja - und dann schauen Sie mal, wie weit Fräulein Jutta ist.“ Ja - und dann kam Fräulein Jutta. Auf einem silbernen Tablett trug sie einen bauchigen Steinkrug, dem ein mächtiger Dampf entströmte, ein Glas, einen Teelöffel und 65 Pfennige. Aha, dachte ich, das sind wohl die sieben heißen Jungfrauen - aber jetzt -, am helllichten Tage? „Sehr schön, Fräulein Jutta“, rief mein Freund, „ja und dann bringen Sie bitte noch ein Glas!“ Er stellte das Tablett auf einen Nebentisch, gab mir die 65 Pfennige und das Paket mit meinen Kampfmitteln gegen die Erkältung. Dann wies er auf den dampfenden Steinkrug: „Ja - und dann hast du wohl ein paar Minuten Zeit? Darf ich dich einladen? Darauf hat schon mein Großvater geschworen und ich schwöre darauf ebenso. Unter uns: Es gibt nichts, was bei Erkältung besser hilft, für mich kommt nichts anderes infrage - als ein recht heißer Grog! Ich muss wohl einen Augenblick ohne Bewusstsein gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam, saß ich am Nebentisch, auf dem Fußboden vor mir lag das Paket mit den Kampfmitteln im Werte von 49 Mark und fünfunddreißig Pfennig. Mein Freund hatte eingeschenkt. Er hob das Glas, nickte mir treuherzig zu und rief: „Ja - und dann: Prost!“  

(Kirchberg a.d. Jagst 1951)