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Wie ich zum Buchhandel kam

Dass ich, als die Frage der Berufswahl entschieden werden musste, auf den Buchhandel verfiel, ist wohl ursprünglich väterlichen Anregungen zu verdanken. Obwohl mein Vater kein wissenschaftlicher oder  literarisch interessierter Mensch war, hatte er doch zu den Künsten und zu Büchern eine offene Aufnahmebereitschaft. Sein Bücherschrank war ansehnlich und mit guten Büchern aus allerlei Wissensgebieten gefüllt. Er bewahrte einige alte Folianten auf, die aus Familienerbe stammten und ließ es auch an Neuerwerbungen nicht fehlen. Und vor allen Dingen war er beruflich mit der „schwarzen Kunst“ - dem Buchdruck - verbunden. Das Papierverarbeitungswerk, dessen Betriebsführer er war, und dessen stattlicher Ausbau zum guten Teil wohl auch ihm zu verdanken war, betrieb zwar vornehmlich den Druck von Plakaten und buntem Verpackungsmaterial, verfügte aber zu eben diesen Zwecken auch über eine beachtliche Handsetzerei und neben den großen Maschinen für Stein- und Offsetdruck über eine stattliche Serie von Siegeldruckpressen. Auch hatte das Werk um die Jahrhundertwende zur leidlichen Deckung seiner Ansprüche den Titel und die Restbestände eines bankrotten Bücherverlages übernommen, deren Tätigkeit zwar ruhte, der aber weiterhin die Verbindung zum Leipziger Kommissionär bestehen ließ. So konnte Vater sich stets bequem über den Büchermarkt informieren und bequem und günstig Bücher kaufen. Das kam mir zugute, sobald ich mühelos lesen konnte. Vater versorgte mich zu jedem Geschenkdatum reichlich mit Lesestoff. Nach Ausbruch des Weltkrieges, als Zehnjähriger, verfügte ich über eine unter meinen Altersgenossen konkurrenzlose Sammlung von Kriegsjugendbüchern. Das veranlasste mich eines Tages im Winter, mit meinen - und meiner Schwester Spielgefährten „Lesestunden“ zu veranstalten. An unsere Wohnungstür wurde ein Zettel angeheftet: „4 - 6 Lesestunde“ und unser Kinderzimmer war für diese Zeit ein gut besuchter „Lesesaal“. Nach einigen Jahren, als Obertertianer, vollbrachte ich eine auf dem Gebiet des Bücherwesens lobenswerte Tat. Ich war ein eifriger Benutzer unserer Schülerbücherei und dabei ärgerte mich die Lotterwirtschaft, die ein älterer Schüler, dem sie anvertraut war, mit ihr trieb. Er beschränkte sich darauf, in den dafür bestimmten Pausen den Bibliotheksraum und die Schranktüren zu öffnen und zu schließen. Die Leser wühlten dann in den Beständen, denen jede Ordnung fehlte, herum, suchten sich etwas heraus, trugen den Titel in eine Liste ein (oder auch nicht) und brachten die Bücher wieder, wann es ihnen gefiel. Obwohl ich einen anderen Leihbücherbetrieb nicht kannte, empfand ich diese Verlustwirtschaft also so unsinnig, dass es mich mächtig lockte, dieses Durcheinander zu beseitigen. Mich reizte der Umgang mit Büchern, und mich reizte das Ordnen, eine Tätigkeit, die mit der Anlage und Pflege von Gartenbeeten verwandt ist, eine Arbeit, an der ich eine angeborene Freude habe. Der Leiter der Bücherei ließ sich meine Mithilfe recht gern gefallen, zumal er wohl auch befürchten musste, dass ihm die Verwahrlosung eines Tages Vorwürfe einbringen würde. Ich ordnete zunächst einmal die vorhandenen Bestände und achtete darauf, dass die Ordnung beim Heraussuchen der Bücher bewahrt blieb. Das Einstellen der zurückgegebenen Bücher übernahm ich selbst. Dann überprüfte ich das einzige vorhandene Bücherverzeichnis und schrieb danach zu Haus in wochenlanger Arbeit zwei weitere Kataloge. Danach konnte ich den entscheidenden Schritt tun, nämlich den Ausgabetisch vor den Eingang rücken und die „Kundschaft“ von den Schränken fernhalten. Ausgabe und Rücknahme führte ich nur selbst durch und verteilte den Leihverkehr der einzelnen Klassen auf die großen Pausen der Woche. Jetzt konnten zerfallende Bände rechtzeitig ausgeschieden und zum Buchbinder geschafft werden und Neuanschaffungen gingen nicht so leicht verloren. Mein Vorgänger wurde  bald seines Amtes enthoben und mir die Verwaltung der Bücherei übertragen. Ich habe sie dann bis kurz vor dem Abitur geführt und zur rechten Zeit einen jüngeren Freund, Günter Linke, hinzugezogen, dem ich das Amt hinterließ - er ist dadurch dazu bestimmt worden, wissenschaftlicher Bibliothekar zu werden.

   Mein eigener Bücherbestand hatte unterdessen an Umfang gewonnen und - aus verschiedenen Anregungen gespeist - einen gewissen ernsthaften Charakter erhalten. Nach meiner Konfirmation - im September 1919 - standen in meinem Schrank u.a. Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg, die historischen Romane von Willibald Alexis, eine Gesamtausgabe der Werke von Heinrich von Kleist und von Gottfried Keller. Der Rahmen meiner literarischen Kenntnisse als Vierzehnjähriger spannte sich weiter als die im Schulunterricht erworbenen - und diese waren nicht einmal so eng. Meine Kriegsbüchersammlung hatte ja mittlerweile nach dem Ende des verlorenen Krieges so etwas wie einen dokumentarischen Wert. Ich behandelte sie auch so, zumal sie aus dem Nachlass eines Onkels, der im diplomatischen Dienst gestanden hatte, mit politischem Schrifttum aus dem Kriege ergänzt und mit der zweisprachigen amtlichen Publikation des Versailler Friedensvertrages abgeschlossen wurde. Danach sammelte ich alle mir zugänglichen Zeitungsberichte über die Volksabstimmungen und Grenzziehungen in den Ostprovinzen. Dazu bewog mich nicht nur die Anteilnahme an dem nationalen Schicksal - es war auch der Wunsch dabei im Spiel, mein kleines historisches Archiv zu ergänzen.

   Einen weiteren bedeutenden Zuwachs zu meinem Bücherbestand erbrachten die Bücher, die mir mein Vetter Rudi Raabe nach seiner Rückkehr aus englischer Kriegsgefangenschaft aus dem Nachlass seines Vaters überließ. Dieser, ein Musiker und eine schlechthin musische Natur, hatte vor Jahren Frau und Kind verlassen und sich nach England begeben. Dort während des Krieges interniert, aber noch vor Kriegsende ausgetauscht, war er bald in Berlin verstorben. Auf dem Boden in Großmutters Haus fand sich unter allerlei Gerümpel u.a. eine Sammlung von etwa zwanzig Klavierauszügen Mozartscher und Wagnerischer Opern, eine vielbändige zeitgenössische  Geschichte der französischen Revolution, eine Ausgabe von Bismarcks Reden und ein bedeutender Stoß von zum Teil noch ungebundenen Lieferungen von Kürschners „Deutscher Nationalliteratur“, der das Grundgefüge für meine von da ab planmäßig ausgebauten Sammlung von Texten der deutschen Literatur abgab. Selbstverständlich katalogisierte ich meinen Bestand, der, als sich die Schule verließ, auf über fünfhundert Nummern angewachsen war und in meiner Dachstube ein hohes Regel und einen Schrank füllte.

  Indessen führte mich erst ein weiter Anlass dazu, den Umgang mit Büchern zu meinem Beruf zu machen.

  Durch den Bibelkreis ergab sich die Verbindung zu einem Berliner Versandbuchhändler, der seinen Umsatz hauptsächlich in christlichen Organisationen tätigte. Er regte im Herbst 1921 an, in der Vorweihnachtszeit in unserer Gruppe einen Verkauf von einschlägigen Büchern zu veranstalten. Der Vorschlag lockte mich, und ich unternahm es, ihn auf besondere Weise zu verwirklichen. In einem Block alter Bürgerhäuser auf der Westseite des Rathausplatzes, die „sieben Raben“ genannt, befand sich eine kleine Buchhandlung, die schon in ihrem Namen „Christliche Vereinsbuchhandlung“ ihre Spezialität ausdrückte. Sie führte neben den beiden großen Buchhandlungen am Orte ein Winkeldasein. Ihre Inhaberin, ein bescheidenes altes Fräulein erklärte sich aus christlicher Solidarität gern dazu bereit, in der Adventszeit eine Ausstellung und den Verkauf von Büchern unseres Bundes kostenlos in ihrem Laden zu gewähren. So spielte ich - anders kann ich es nicht nennen -, sechs Wochen lang mit größtem Vergnügen hingebungsvoll Buchhändler. Die Bücherballen kamen, die Bücher wurden ausgepackt, mit den Fakturen verglichen, mit den Preisen ausgezeichnet und im Laden gestapelt. Viele Abende saß ich mit Freund Willi Segebarth in meiner Dachstube, mit dem Entwerfen von Handzetteln und deren Vervielfältigung und dem Malen von Plakaten beschäftigt. Dann besuchten wir alle anfallenden Veranstaltungen von Jugendorganisationen, nur um dort unsere Plakate anzuschlagen und Handzettel an den Mann zu bringen. In einem der beiden kleinen Schaufenster durfte ich meine Schriften ausstellen, und im Laden selbst wurde mir die Hälfte des großen Verkaufstisches eingeräumt. Dann stand ich, sobald Schule und Mittagessen vorbei war, in der Buchhandlung, erwartete meine Kunden, bot an und verkaufte. Bald gingen das Weihnachtsgeschäft des alten Fräuleins und das meine ineinander über. Denn ich wurde ja nicht gerade von Interessenten überrannt und die Käufer wählten aus allen Büchern, die feilgeboten wurden. So wurde ich zu einer nützlichen Aushilfe für die alte Dame und kostete zum ersten Male die hohe Zeit des Sortimenters aus, welche die Vorweihnachtszeit nun einmal darstellt. Dabei ließ sich der Absatz meiner Bestände immer besser an, ich musste etliche Titel nachbestellen und hatte am Heiligen Abend mein Lager fast ganz geräumt. Den Rest konnte ich noch in unserer Gruppe absetzen und das stattlichste Stück der Kommission, eine schöne Ausgabe von Wilhelm von Kügelgens Jugenderinnerungen behielt ich als Andenken an dieses Unternehmen für mich.

  Dies geschah, als ich eben Unterprimaner geworden war. Um diese Zeit begann meine Eltern die Frage zu bewegen, was aus mir nach Schulabschluss werden sollte. So sprach mich meine Mutter an einem Abend darauf an, ob ich den Buchhandel, den ich in dieser Adventszeit mit so viel Hingabe ausprobiert hätte, wohl zu meinem Beruf machen wolle. Dabei stand ihr das Glück, eine echte Neigung an mit entdeckt zu haben, ins Gesicht geschrieben. Sie hätte, wie ich später erfuhr, mich gern einmal als Arzt gesehen - nun war ihr aber die Vorstellung als ehrbarer Kaufmann eine gut angesehene Buchhandlung zu führen, ebenso recht. Wir erkannten zwar beide, dass zu diesem Ziele das Abitur nicht unbedingt erforderlich wäre, aber wünschten doch, auf ein passendes Universitätsstudium nicht zu verzichten. Dabei dachte ich schon mehr an einen Verlag, wovon meine Mutter sich offenbar keine rechte Vorstellung machen konnte. Jedenfalls wurde geplant, dass ich eine regelrechte Lehrzeit in einer Buchhandlung absolvieren sollte, dies aber möglichst in einer Universitätsstadt, damit ich nebenbei Vorlesungen hören könnte. Eine günstige Gelegenheit, diesen Plan zu verwirklichen, schien sich in Bonn zu verwirklichen, wo eine Schwester meines Vaters mit einem Bankdirektor verheiratet lebte. Es gelang auch, mir eine Lehrstelle bei der renommierten Röhrscheidt’schen Buchhandlung zu sichern. Doch dann scheiterte das Vorhaben daran, dass die Bonner Verwandten sich weigerten, mich in ihre Familie anzunehmen und meine Eltern mir noch nicht zutrauten, fern von ihnen auf eigenen Füßen zu stehen, möglicherweise auch die Kosten überschätzten. Gewiss: die Verhältnisse damals in Deutschland waren alles andere als beruhigend. Das Rheinland war von französischen Truppen besetzt, die Geldentwertung begann virulent zu werden. Kurz und gut, die Lehre in Bonn wurde fallen gelassen, und ich war nicht selbstbewusst genug, nur darauf gegen den Willen der Eltern zu bestehen.

   Das war umso bedenklicher, als sich ein anderer Weg lange Zeit nicht finden ließ, woran die sich rapid verschlechternde wirtschaftliche Lage in Deutschland mit Schuld tragen mochte. Als dann eines Tages ein jüdischer Geschäftsfreund meines Vaters uns eine Lehrstelle bei einem Berliner Bekannten vermittelte, griffen wir danach schon beinahe wie nach einem Notanker. Ein regelrechter Lehrvertrag wurde abgeschlossen, und dabei waren wir Beide, Vater und ich, davon durchdrungen, dass diese Buchhandlung in der Kurfürstenstraße weit von unserer Idealvorstellung entfernt sei. Aber wenigstens hatte der junge Inhaber, Dr. Levy Ginsberg, als Akademiker Verständnis für die Absicht, nebenher die Universität zu besuchen und mir in Aussicht gestellt, im zweiten Lehrjahr Vorlesungen belegen zu dürfen. Meine Unterbringung in Berlin ließ sich nach Wunsch meiner Eltern regeln: Tante Klara Schulze erklärte sich bereit, mich in Kost und Wohnung aufzunehmen - ich würde dann mit zwei gleichalterigen Vettern zusammenleben, zu denen ich seither herzliche Beziehungen gepflegt hatte.

  Schon die ersten Sonntage in Berlin nutzte ich zum Besuch der großen Museen. Nach der Nationalgalerie und dem Alten Museum suchte ich das Kaiser Friedrich Museum auf. Es waren nur wenige Besucher da, und oft wandelte ich ganz allein an den stummen Aufsehern vorbei durch die Säle. Schließlich bemerkte ich einen bärtigen Herrn von etwa fünfzig Jahren, der den gleichen Weg nahm und mich einholte, als ich vor der Marmorbüste des Papstes Alexander VI. stand. Der Herr fragte mich, was es mit diesem Papste auf sich hätte, ich konnte aus meinen noch prüfungsfrischen Schulkenntnissen einige Auskunft geben. Er ließ sich das gefallen und erging sich in Einzelheiten, wobei er mit seiner Abscheu gegen diesen Papst nicht zurückhielt. Dann erkundigte er sich nach meinem Woher und Wohin. Ich erzählte ihm, dass ich erst vor einigen Tagen nach dem Abitur hierher gekommen sei um die Lehre in einem Sortiment anzutreten. Er ließ sich die Buchhandlung nennen und fragte mich, ob es mir denn dort gefiele, ob ich schon einmal eine Faktur in der Hand gehabt hätte. An dieser Frage sollte und musste ich bemerken, dass mir ein Mann vom Fach gegenüberstand. Während wir uns schweigend dem nächsten Gemälde zuwandten, schien sich der Herr sichtlich zu bedenken. Dann setzte er neu an und eröffnete mir, dass er selbst Buchhändler und zwar der Inhaber der angesehenen Ackermannschen Buchhandlung im Zentrum der Stadt sei, die er von seinen Vorfahren übernommen hätte. Er vermied jede Kritik an meinem Chef, als er mir jetzt erklärte, er wäre bereit, mich zu den gleichen Bedingungen, wie ich sie jetzt hätte als Lehrling in seine Handlung aufzunehmen. Ich würde bei ihm weder der erste noch der einzige Lehrling sein. Aus seinem Hause seien schon Generationen tüchtiger Buchhändler hervorgegangen.

  Die Begegnung bewegte mich außerordentlich und konnte mich wundergläubig machen. Konnte dies die Chance sein, hier in Berlin doch noch eine Lehrstelle zu finden, die der verschwundenen Bonner Hoffnung entsprach? Aber ich wälzte das Angebot eine ganze Nacht mit mir herum und ging dann doch am anderen Morgen an meinen Platz in der Kurfürstenbuchhandlung mit dem Entschluss aus der seltsamen Stunde im Kaiser Friedrich Museum keine Konsequenzen zu ziehen. Ich wagte es nicht, meinem Leben aus eigenem Entschluss eine Wende zu geben.