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Nikolaus in Bayern

(geschrieben um 1949)    

   Als der Krieg zu Ende und die Heimat verloren war, kam ich zu einem alten Bauern in einem bayrischem Dorf und wurde Ochsenknecht. Es war alles anders, als es früher gewesen. Man mußte sich allmählich hinein­finden.
  
  Allein schon die bayrische Mundart war mir lange wie mit sieben Siegeln versiegelt. Das erste, was ich verstehen lernte, waren die ungezählten kräftigen Flüche, mit denen der bayrische Alltag gewürzt ist.  

   Als einmal beim Ackern der Feri, der bei den Prozessionen die Kirchen­fahne trug, auf seine Gäule ein solches endloses Hagelwetter hernieder­prasseln ließ, daß mir vor Staunen Mund und Augen offen stehen blieben, rief er mir zu: "Das mußt verstehen, Rudi, wir in Bayern fluchen arg viel, aber - wir können auch beten."

   Diese Weisheit leuchtete mir ein. In beiderlei Hinsicht bestand da ein wesentlicher Unterschied zu meinen Gepflogenheiten. Von Beten will ich gar nicht reden. Aber auch mit den von Flüchen besäten Zornaus­brüchen gingen wir daheim entschieden sparsamer um. Ich hatte eigent­lich nur eine Vokabel für solche Fälle äußersten Unwillens in Bereit­schaft. Die hatte mir
mein Vater vererbt, der sie sicher vom Groß­vater hatte und dessen Ahnen vielleicht vom Korporal des alten Fritzen. Sie hieß
 
  Kreuzschockschwerenotelementnichtnochmal!  

   An einen Novemberabend hatten die jungen Bauersleute, bei denen ich ab und an einen Abend zubrachte, eine Bitte, die mich einigermaßen überraschte; "Ob ich heuer nicht den Nikolaus im Dorf darstellen möchte." Im Innern war ich sofort dazu bereit. Denn das Ansinnen bewies mir, dass ich nicht mehr als gänzlich Fremder im Dorfe galt. Dennoch machte ich Einwände, vor allem, dass ich doch die Mundart sehr schlecht verstünde und noch weniger sprechen könnte. Das wurde aber alles nicht angenommen, ja in Gegenteil als besonders günstig beur­teilt.  
 
  "Hier im Dorfe kennen sich alle Einheimischen so gut, dass sehr bald auch die Kinder heraushören, war den Nikolaus darstellt, und dann ist es mit seiner Wirkung ziemlich vorbei. Dich aber kennen sie noch nicht, und wir werden das Geheimnis hüten. Erfahren allerdings die Buben einmal, wer den Nikolaus gemacht hat, dann mußt du dich damit abfinden, dass sie dir das ganze Jahr über "Nikolaus" nachrufen.“  
 
   Ich schlug ein. Am späten Abend des sechsten Dezember schlich ich mich durch ein Hinterpförtchen vom Hofe. Bei meinen Auftraggebern war alles vorbereitet. Ich wurde in einen alten Pelzmantel gesteckt, bekam Filzstiefel an und setzte meine Pelzkappe auf, unter der ein das ganze Gesicht verhüllender Bart von roher Schafwolle befestigt  wurde. In einem Sack wurden die kleinen Sachen verstaut, die von den Müttern für ihre Sprößlinge abgegeben worden waren nicht nur " Gutseln" und Äpfel, sondern auch allerlei Schabernack. Besonders beliebt waren in kleine Schachteln verpackte Roßäpfel! Jetzt lärmte es im Haus­flur, und herein polterten drei so ähnlich wie der Nikolaus ver­mummte halbwüchsige Buben - des mächtigen Geistes Gefolge,  

  Diese brauchte ich allerdings als ortskundige Lotsen, aber sie waren nicht für mich erfunden, sondern gehörten von je her zum Aufzuge. Sie führten neben starken frischen Fichtenreisern Kuhschellen und Wagenketten mit, die dazu dienten, unter den Fenstern und auf den Fluren ein schreckliches Gepolter und Gerassel zu veranstalten.  

  So traten wir unseren Gang durch das Dorf an, über den sich ein stiller frostklarer Sternhimmel wölbte. Das Gerassel der Ketten und die Schläge an Fensterläden und Türen brachen wie ein wilder Windstoß in die warmen Stuben. Fast immer empfing uns angstvolles Kinderweinen. Ich hörte mir, während meine Gesellen mit ihren Ruten allerlei Un­wesen trieben, viele Paternoster und immer wieder einen kleinen Vers auf den Nikolaus an, den die ABG-Schützen zu diesem Behufe in der Schule gelernt hatten. Und dann versuchte ich, vielleicht nicht ganz so wie man es dort von dem rauhen Alten gewohnt war, die jungen Gemüter ein wenig von ihrer Angst zu erlösen. Ich ließ mir Puppen zeigen, Wünsche an das Christkind auftragen und auf dem Schaukelpferd vorreiten. Auf diese Weise getröstet wurden die Gutseln mit helleren Augen empfangen und die Rossäpfel dreist in den Ofen geworfen.

  Als wir das Dorfende erreicht hatten und der Sack leer war, bestürmten mich meine Gesellen noch mit einem besonderen Wunsche. Wir müßten jetzt zu einer Häuslersfrau gehen, die acht Buben habe, derer sie nicht Herr werden könne. Ich war einverstanden, und als­bald rumpelten wir ungestüm in eine niedrige Stube, in der ich zunächst nur eine kleine vergrämte Frau mit dem Jüngsten auf dem Schoße an dem Ofen sitzend erkannte. Ich ging auf sie zu, und sie betete, indem sie dem Kindchen die Händchen faltete, mit einem Ernst, der jenseits allen Spieles stand, ein leises Vaterunser. Ich vergaß ganz meine Vormummung und war versucht, still mitzubeten. Da brach hinter mir ein Höllenlärm los. Meine Trabanten hatten die Jagd auf die übrige in allen möglichen Verstecken hockende Horde aufgenommen und trieben die sich verbissen wehrenden Buben zusammen.  

  Einer meiner Gesellen lag mit den ältesten Jungen in einer wilden Rauferei, wobei seine Nikolausattribute nach allen Seiten fortflogen. Ich spürte, dass hier eine Rechnung beglichen wurde, die mit dem 6.Dezember nichts zu tun hatte, und dass jetzt nur ein schnelles Zupacken das Ansehen des heiligen Nikolaus retten könnte. Ich riss die beiden Kampfhähne auseinander, holte einen anderen Buben aus dem Sack heraus, in dem er zum Misthaufen geschleift werden sollte, stellte ihn mit Nachdruck vor mir auf die Beine und donnerte im tiefsten Baß ein zornentflammtes

  Kreuzschockschwerenotelementnichtnochmal!  

in die Stube. Mit einen Schlage war der tolle Lärm gebannt. Jetzt nur nicht zögern! Ich wandte mich gleich an den Größten: "Glaubt ihr, der Nikolaus kommt von Werweißwoher aus den finsteren Wäldern Nord­landes, um sich eure Schlägerei anzusehen? Kannst Du überhaupt noch ein Vaterunser beten?"

   Das Unwahrscheinliche geschah: Mit einem verstohlenem Blick, als ob er an seinem eigenem Verstand irre wurde, murmelte er das Paternoster herunter. Und war er sich unsicher, mit wem er es zu tun hatte, so loderte in den Gesichtern der jüngeren Brüder die helle Angst vor dem leibhaftigen Nikolaus.

   Über sie aber ging mein Auge in die Ofenecke zu jener stillen Frau mit dem Kind auf den Schoß, von der meine Gesellen gesagt hatten, sie würde ihrer Buben nicht mehr Herr. Und ich befahl den Burschen: "Jetzt geht jeder zur Mutter und vorspricht ihr in die Hand: Ich will die ganze Weihnachtszeit gut zu dir sein, damit wir ein gesegnetes Christfest haben." Nachdem sie alle sieben das so gut, wie es jeder vermochte,  vorrichtet hatten, verließ ich die Hütte. Mein Werk war ge­tan und ich verschwand heimlich in meinre Kammer.  

  In den nächsten Tagen schwirrten die erstaunlichsten Geschichten vom Nikolaus durch das Dorf. Er selbst kam dabei recht gut weg. Aber das beste war, daß er unerkannt blieb. Die Alten vermuteten schließlich, daß man ihn aus einem Nachbardorf geholt hatte, und für die Kinder galt er eben als der leibhaftige Nikolaus.  

   Weihnachten ging vorüber, der Winter wich dem Frühling und dieser dem Sommer. Und mit der Ernte wurde es Herbst. Ich zog jeden Tag mit meinen Ochsen durch das Dorf, aber niemals hörte ich den Ruf "Nikolaus."  

   Als wir die Kuben einfuhren, gab es die ersten Nachtfröste und man sprach bereits wieder vom Winter. An einem Samstagnachmittag war ich, als sich schon die fahle Dämmerung über das Land legte, mit der letzten Ladung unterwegs. Dabei hatte ich am Eingang des Ortes eine Sperre von Häuslerbuben zu passieren, die hier von jedem vollen Wagen ein Tribut an Rüben für ihre Kaninchen und Ziegen forderten. Als ich jetzt an der lauernden Horde vorbeiziehen wollte, blieben meine Ochsen vor einem Rübenkraut auf der Straße stehen und waren nicht mehr von der Stelle zu bringen. Ich wurde ärgerlich, sprang vom Wagen, zog dem störrischen Ochsen die Peitsche über den Rücken und schmetterte mein kräftigstes 

        Kreuzschockschwerenotelementnichtnochmal!

in den Abendrauch.  

   Die Ochsen zogen an, die Räder rollten, und hinter mir blieb eine Weile verblüffte Stille. Dann aber gellte ein helles "Nikolaus" hinter mir und "Nikolaus - Rudi ist Nikolaus – das war der Nikolaus" hinter mir schrie es jetzt aus vielen Knabenkehlen. Sie stürmten heran, noch ihre Rüben in der Hand, liefen neben mir die Dorfstraße entlang und verkündeten aller Welt: "Rudi ist der Nikolaus."

  Diese Rübenfuhre war der seltsamste Triumphzug, den ich je erlebt habe. Und es blieb nur noch die Frage, hier hier triumphierte, die bayrischen Dorfbuben oder der Nikolaus und Ochsenknecht aus "Nordlands finsteren Wäldern"? Ich denke, beide hatten ihren Teil daran.