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Der verbundene Dieb
(geschrieben zum Andenken an den ersten Adventsonntag 1950)

Schon vor langer Zeit sind die Bären aus den deutschen Wäldern fortgezogen. Vor etlichen Jahren jedoch ist ein Bär aus Polen nach Deutschland hinüber­gewechselt, dort wo der Wald noch am dichtesten und die Dörfer noch am seltensten sind. Einige Frauen und Kinder sahen ihn beim Pilzesuchen von ferne und liefen erschrocken davon. Auch der Förster des Waldes fand wohl seine Spuren. Es gelang ihm aber nicht das Tier zu erlegen.

In der Nacht zum ersten Adventssonntag fiel ein schöner, trockener Neu­schnee. Als der Jäger am Sonntagmorgen die schöne, weiße Decke sah, sagte er zu seiner Frau: "Ich will heute Abend hinausgehen, um nach den Spuren zu schauen, die das Wild in dem neuen Schnee hinterlassen hat. Vielleicht kann ich dabei endlich auch dem Bären auf die Spur kommen."

Der Frau war die Absicht ihres Mannes eigentlich nicht recht. Denn sie wollte den ersten Adventssonntag wie gewohnt mit ihm und den Kindern zusammen verbringen, zum ersten Male wieder Weihnachtslieder singen und das erste Licht am Advents­kranz anzünden. Da sie aber wohl wußte, daß ein rechter Jäger bei Neuschnee nicht im Hause zu halten ist, widersprach sie nicht. Ich will dann, sagte sie, mich heute abend an die Weihnachtsbäckerei machen.

Als es nun dunkel wurde und der silberne Mond über dem verschneitem Wald emporstieg, nahm der Jäger sein Gewehr, verabschiedete sich von Frau und Kindern und ging in den Wald. Die Frau aber mit ihren beiden Buben heizte den Backofen ein, holte das Mehl, den Topf mit dem Honig und alle anderen Zutaten für einen rechten Honigkuchen herbei, rührte den Teig an, knetete ihn, rollte ihn aus und schnitt allerlei lustige Formen zu. Dann legte sie die Stücke säuberlich auf die Bleche und schob das Backwerk in den Ofen.

Eben wollte sie mit den beiden Jungen das erste Weihnachtslied anstimmen, da ließ sich an der Haustür ein Stampfen und Kratzen und danach ein tiefes Brummen vernehmen. Als sie erschrocken herum fuhr, wurde die Tür auch schon aufgestoßen und ein mächtiges, zottiges Tier erschien auf der Schwelle. Der Bär, rief die Frau im höchstem Entsetzen, und noch ehe das Ungetüm einen weiteren Schritt getan hatte, war sie mit ihren Kindern zu der Leiter ge­sprungen, die von der Küche zu der Schlafkammer auf den Boden führte, flog mit ihnen die Leiter hinauf und zog diese hinter sich nach. Nun starrte sie durch die offene Bodenluke hinunter, um zu beobachten, was weiter geschah.

Der Bär blieb eine kleine Weile in der Tür schnüffelnd und brummend stehen
und blinzelte, als ob er sich erst an das Licht in der Küche gewöhnen müsse.
Dann stapfte er herein, schüttelte sich den Schnee vom Fell und von den
Tatzen und schnupperte in alle Ecken, bis er an den Honigtopf gelangte. Den
Honig lieben die Bären bekanntlich über alle Maßen und es war wohl so, daß
eben dieser Honigtopf das Tier herbeigezogen hatte. Es fing auch unver­züglich an, den Topf laut schmatzend auszuschlecken, wobei es sich den gelben Honig recht vergnüglich mit der Zunge um Maul und Nase schmierte.


Als der Bär so tief gekommen war, daß er mit der Zunge an den Rest nicht mehr heranreichte, stellte er sich auf seine Hintertatzen und stülpte den Topf über seine Nase, sodaß der letzte Honigseim ihm in das Maul hinein­ laufen konnte. Als er dann den letzten Tropfen genossen hatte, schüttelte er unwillig den Topf ab und ließ ihn auf den Boden fallen, wo er in hundert Stücke zerbrach.

Das gab der voller Angst in der Bodenluke lauernden Frau einen neuen Stoß und voller Sorge fragte sie sich, was das Untier jetzt wohl anrichten werde. Dieses begann wieder schnüffelnd in der Küche herumzuwandern und nahm schließlich, wohl durch den Duft der jetzt dort backenden Honigkuchen ange­zogen, Richtung auf den Backofen.

Als es aber mit der Nase an die Backofentür stieß, fuhr es mit lautem Gebrüll zurück und tanzte in wildem Schmerz in der Küche umher.

Ohweh. flüsterte die Frau zu ihren Kindern, jetzt hat er sich furchtbar die Nase verbrannt. Was für ein Unheil wird er in seinem Schmerz und seiner Wut unten nun anrichten. Was kann ich nur tun, um ihn zu besänftigen?

Da fiel ihr in ihrer Not der stattliche Topf mit der Wundsalbe ein, den sie in der Schlaflammer auf dem Schrank stehen hatte. Flugs holte sie ihn herunter, schlang die Wäschleine herum und ließ ihn durch die Luke in die Küche herab. In der Tat bemerkte der Bär trotz seiner Schmerzen das neue Töpfchen und näherte sich vorsichtig. Kaum hatte seine verwundete Nase die schöne weiße Salbe berührt, so spürte er eine wohltuende Linderung seiner Schmerzen, und da ein Hauptbestandteil der Salbe süßes Schweineschmalz war, überkam ihn zugleich eine heftige Lust, auch diese Töpfchen auszuschlecken. Sein Brummen wurde hörbar vergnüglicher, und an weitere Untaten schien er zunächst nicht zu denken,

So wäre der Frau wieder um vieles leichter ums Herz gewesen, wenn nicht eine neue Sorge in ihr aufgestiegen wäre. Mittlerweile nämlich mußten die Honigkuchen im Backofen fertig gebacken sein und kamen in Gefahr zu verbrennen, wenn sie nicht herausgezogen würden. Noch aber war nicht abzusehen, wann der Bär den Weg zum Backofen freigeben würde.

Nun war aber im nächsten Dorf ein Dieb. Der hatte es schon lange auf das Försterhaus abgesehen. Da er jedoch den Förster und sein Gewehr fürchtete, versuchte er zu erkunden, wann der Förster mit Sicherheit nicht daheim ist. So hatte er auch festegestellt, daß der Förster, wie jeder rechte Jägersmann, bei Neuschnee auf Spurensuche geht. Als nun an jenem Sonntag ein Neuschnee gefallen war, da machte er sich gegen Abend auf, um des Försters Haus heimzusuchen. Just als der Bär so innig vergnügt mit dem Salbentöpfchen beschäftigt war, er schien sein böses Gesicht im Küchenfenster.

Als die Frau diese neue Gefahr bemerkte, stockte ihr der Atem von neuem. Aber auch der Bär war über diese plötzliche Erscheinung erschrocken. Er ließ den Salbentopf aus und wandte sich der Tür zu. Den furchtbarsten Schrecken jedoch erfuhr der Dieb, als er den Bären erkannte. Das wäre ihm im Leben nicht eingefallen, daß der Bär beim Förster Hausgast sein würde! Als dieser nun gar sich zur Tür wandte, glaubte er nichts anderes, als daß der Bär ihn jetzt packen würde. Er sprang vom Fenster herunter und wandte sich eiligst zur Flucht.

Der Bär wiederum. als er den Dieb davonlaufen sah, sagte sich: „Auf einen Wettlauf kommt es dir an, Bürschlein? Den will ich wohl gewinnen“ – und setzte sich gleichermaßen in Trab. Alsbald hatte er den Dieb eingeholt, und als dieser angsterfüllt stehen blieb, stellte er sich auf seine Hinterbeine und schlug ihm mit der Vorderpfote so furchtbar ins Gesicht, daß der Bursche blutüberströmt in den Schnee sank. Als der Bär sah, daß er seinen Gegner so nierdergeschlagen hatte, war er’s zufrieden und trollte sich in den Wald davon.

Als die Frau indessen begriffen hatte, daß mit einem Schlage der Bär und der Dieb das Feld geräumt hatten, lief sie flugs die Leiter herunter und eilte sogleich zu dem Backofen, riß die Tür auf – und ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihrem bedrängten Herzen – die Honigkuchen waren gerade richtig ausgebacken und kein einziges Stück verbrannt. Sie zog sie aus dem Ofen heraus, eilte dann aber schnell Tür und Fenster zu verriegeln und ließ ihre beiden Buben heruntersteigen. Nun waren sie froh, daß sie allen Gefahren zunächst entkommen waren und warteten nur noch besorgt auf die Rückkehr des Vaters.

Dieser hatte indessen trotz eifrigem Suchens die Spur des Bären nicht aus­machen können, weil er gerade in die entgegengesetzte Richtung gegangen war. Verdrießlich kehrte er deshalb wieder um, zumal ihn eine ihm unerklärliche Unruhe befiel. Als er schon ziemlich nahe seinem Hause war, entdeckte er plötzlich im Schnee die Spuren einer mächtigen Tatze, die nur von dem Bären herrühren konnte. Gleich darauf hörte er ein klägliches Wimmern. Er ging ihm nach und fand im Schnee über das ganze Gesicht blutend den Dieb. Ihm war sofort klar, daß dieser Mann ein Opfer des Bären geworden war, nahm ihn auf und schleppte ihn in sein Haus.

Dort fiel ihm seine Frau weinend um den Hals, und erzählte ihm die schreckensvolle Stunde, die sie soeben durchgemacht hatte. Als sie den Verwundeten als den Dieb erkannte, der durch das Küchen­fenster einsteigen wollte, fuhr der Förster voll Zorn herum, um ihn mit Schlägen abzustrafen. Dann aber ließ er die erhobene Hand sinken, denn voller Mitleid sah er, daß der Bär so furchtbar zugeschlagen hatte, daß auf dem ganzem Kopfe auch nicht der kleinste Platz mehr war, um noch einen weiteren Schlag anzubringen. Der Dieb aber gestand weinend sein böses Vorhaben ein, bat flehentlich um Gnade und um Hilfe für seine Wunden. Nun, meinte der Jäger dich hat wahrlich mein Hausfreund, der Bär, tüchtig genug gestraft. Ich brauche da nichts mehr hinzu zu tun. Ich hoffe, daß du nach dieser Erfahrung künftig den Besuch von Forsthäusern unterlassen wirst. Nun aber will ich sehen, was ich für dein zerschundenes Haupt tun kann. Frau, wo ist denn das Salbentöpfchen?

Jetzt erst erzählte die Frau, wie sich der Bär am Backofen die Nase verbrannt hatte, und wie sie darauf verfallen war, ihm den Salbentopf in die Küche herab­zulassen, um womöglich seinen Schmerz und seine Wut zu besänftigen. Da mußte der Jäger herzlich lachen und lobte seine Frau ob ihrer Klugheit. Die Buben brachten indessen den Salbentopf herbei und siehe, es war noch genug übrig, um den blutenden Diebskopf damit einzuschmieren. Alsbald verspürte der Dieb auch Linderung der Schmerzen und hörte auf zu wimmern. Nun müssen wir aber auch den Kopf noch richtig verbinden, sagte der Jäger. Also holte die Frau eine lange Leinenbinde und der Mann band den Kopf des Diebes um und um zu, sodaß er aussah, wie eine einzige weiße Kugel, oder wie die blasse Scheibe des Vollmondes. Nur die Nase quoll als roter Ball daraus hervor und die beiden Augen standen als winziger Punkt in dem weißen Rund. Als die Buben das so ver­bundene Gesicht sahen, mußten sie lachen und auch der Jäger und seine Frau konnten nicht anders, als mitzulachen. Ob der Dieb sogar selbst mitgelacht hat, war freilich nicht zu erkennen. Die Frau gab ihm nun als Zeichen, daß sie ihm verzeihe, einige Honigkuchen und der Jäger brachte sogar eine Wurst von denen herbei, die bei einem schlimmerem Ausgang die Beute des Diebes gewordden wäre. Dann schickten sie den Dieb fort.

Als die Förstersleute allein waren und in Gedanken die Schrecknisse dieses Adventssonntages neu an sich vorüberziehen ließen, fiel der Frau auf ein­mal a in, zu sagen: "Mann, ich hätte eigentlich eine Bitte. Wenn ich es recht bedenke, hat der Bär, der mich um des Honigs willen in solchen Schrecken ver­setzt hat, uns doch vor einem viel schlimmerem Unglück bewahrt. Ich meine, wir müßten ihm dafür dankbar sein und du darfst ihn nicht totschießen."  Der Jäger machte hierzu lange ein recht bedenkliches Gesicht. Dann aber antwortete er: "Ich könnte deinen Wunsch erfüllen, wenn du mir gleichermaßen eine Bitte gwährst. Die Bären sind nun einmal so wie sie der liebe Gott ge­schaffen hat, unverbesserliche Liebhaber des Honigs und sie werden ihm nachgehen, wo immer sie ihn vermuten, zumal im Winter, wenn ihnen wie allen Tieren des Waldes, die Nahrung draußen in der Natur knapp wird. Deshalb bitte ich dich, backe unserem Bär für die Winterszeit tüchtig Honigkuchen. Dann glaube ich, brauche ich auch nicht auf ihn zu schießen."

Die Frau willigte ein. Am nächsten Morgen, noch lange vor Tagesanbruch, schlich sie mit ihrem anderem Honigtopf in die Küche, fachte die Glut im Backofen neu an, rührte einen Honigkuchenteig ein und buk schöne große Honig­kuchen, kugelrund und von Kopfesgröße. Nachdem sie diese wohlgeraten aus dem Backofen gezogen hatte, bestrich sie sie über und über mit weißem Zuckerguß, ließ sie abkühlen und drückte dann in ihre Mitte ein rotes Äpfelchen und darüber zwei Haselnüße.

Als die Buben aus der Schlafkammer herunter stiegen, zeigte sie ihnen die Kuchen und fragte, was das denn sei. "Ha" rief der Große: "Das ist ja der verbundene Dieb?!" Und "Vati" rief der Kleine: "Der bunte Dieb, der bunte Dieb!" Nun freuten sich alle über den lustigen Einfall der Mutter und waren mit den Erlebnissen des ver­gangenen Abends ganz ausgesöhnt. Als es aber wieder dunkel wurde, hing der Vater solch einen "verbundenen Dieb" an den Tannenbaum vor dem Hause, gerade so, daß ihn der Bär erreichen konnte. Dann verriegelten sie wieder die Tür und die Fenster und lugten durch die Herzen, die in die Fenster­läden geschnitten waren hinaus, ob der Bär wohl koramen würde.

Und wirklich ließ sich etwa zur gleichen Zeit wie am Vorabend das bekannte Brummen ver­nehmen, ein mächtiger Schatten erschien im Mondlicht, und eine begierige Nase fand den Weg zu dem süßem Kuchen. Der Bär riß ihn herunter, verzehrte ihn mit großem Behagen und machte sich dann wieder vergnügt brummend davon.

So ging es nun während der Winterszeit jeden Abend, und die Förstersfrau mußte freilich einen gehörigen Vorrat an Honig und Mehl opfern, um das Verlangen des Bären zu befriedigen. Dieser wurde dafür aber immer zutrau­licher, sodaß schließlich die Förstersleute es gar nicht mehr nötig hatten, das Haus vor ihm zu verriegeln. Auch hatte der Jäger, wenn er in den Wald ging, stets solch einen "verbundenen Dieb" in seiner Tasche. Aber er hat niemals erzählt, ob er dem Bären draußen begegnet war. Sobald der Frühling kam und der Schnee schmolz, blieb der Bär fort. Als dann wieder die Advents­zeit nahte, mußte die Muetter erneut den "verbundenen Dieb" backen. Und tatsächlich erschien der Bär wieder, um sich sein Deputat an Honigkuchen zu holen. So ging es mehrere Jahre hindurch. Als dann eines Tages der Bär für immer fort blieb, behielten die Förstersleute dennoch die liebe Ge­wohnheit bei und hingen zur Winterszeit einen "verbundenen Dieb" an den Tannenbaum vor das Haus. Und holte ihn jetzt nicht mehr der Bär, so kamen doch die kleinen Meisen und pickten am Apfel und an den Haselnüssen, und es kamen die Rehe und knabberten an den süßen Kuchen und dankten den Menschen, die ihnen in ihrer kargen Zeit so freundlich halfen.