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Das  Schaufenster
(06 Dezember 1948)

Die Wochen vor dem Weihnachtsfeste sind für den Buchhändler, was für den Bauern die Erntezeit. Die Kette der Arbeit reißt nicht ab bis zum Ladenschluß am Heiligen Abend.

Da ich einiges Geschick im Ausstatten der Schaufenster bewiesen hatte, überließ mir mein Chef im zweiten Lehrjahre den Aufbau des Weihnachts­fensters, aber es mußte in der Nacht geschehen, denn am Tage war dazu weder Raum noch Zeit.

So fand ich mich denn an einem späten Abend allein in dem aufgewühlten Bücherreich. Ich schürte noch einmal tüchtig den Ofcn, räumte das Schau­fenster aus und suchte mir allenthalben zusammen, was ich für mein Werk benötigte. Dann aber löschte ich im Laden das Licht und verhängte Stille und Dunkel über das aufgeregte Büchervolk. Nur die Lampe über dem Schaukasten beließ ich. Sie blendete die Sicht durch die große Scheibe auf die Straße ab, so daß ich das Geschehen draußen nur un­deutlich erkennen konnte.  Immer seltener strichen die Geisterzüge der Sraßenbahnen vorüber und ratterten die Omnibusse. Ab und an erschien flüchtig ein neugieriges Gesicht dicht an der Fensterscheibe. Als es ganz still auf der Straße geworden war, rieselten SchneefIocken herab und deckten so ungestört wie auf den Feldern Pflaster, Schienen und Laternen zu.

 Ich dachte an die Weihnachtsschaufenster meiner noch nahen Kindheit in der Heimatstadt zurück. Das schönste für mein Empfinden war das jähr­lich wiederkehrende einer Drogerie, die den ganzen Schaukasten mit Watte in eine Winterlandschaft verwandelte, darin verschiedene kleine Ortschaften aufbaute und zwischen diesen, Berg und Tunnel nicht ver­gessend, eine elektrische Eisenbahn herumfahren ließ.

 Hier schien nun etwas Verwandtes zu entstehen. Ich hatte den ganzen Baum mit Tannengrün ausgeschlagen, das hier und da ein Sternchen oder ein Silberfaden schmückte. Vor diesem dunkel-warmen Hintergrunde ent­standen nun aus Büchern gebildet Winkel und Plätze, hier ein Kinder­bücherland, dort ein Märchenreich, in der Mitte die Stätte der heiligen Geburt auf alten deutschen Bildern, eine Kalenderecke, eine Versamm­lung von Erzählern. Legorellobändchen, die sich wie Ziehharmonikas auseinanderfalten ließen, legten lustige Bilderstraßen durch meine Weihnachts-Bücherlandschaft.

 Als ich mich in meinem fast vollendeten Werke betrachtend niederhockte, überkam mich ein seltsames, vertrautes Gefühl von reinem Wohlempfinden. Ich suchte in meiner Erinnerung nach seinem Ursprung und fand ihn in einem Kindertraum, ich glaube dem einzigen, der mir unvergeßlich ge­blieben war um der Seligkeit willen, die er mir bescherte. Da sah ich mich in einer milde erleuchteten, traulichen Zwergenhöhle, in der auf langen Tischen das schönste Back- und Zuckerwerk feilgeboten ward. Ich war Herr über diese Dinge. Aber meine Freude bestand nicht darin, von ihnen zu nehmen oder zu essen, sondern vielmehr in ihrem Vorhanden­sein allein. Obwohl es so etwas wie ein Verkaufsstand war, erschienen auch lange keine Käufer oder Betrachter außer mir. Mich aber befiel eine Bangigkeit, daß dieser Zustand des Glückes bedroht werden könnte. Und schon erschien eine unheilvolle Gestalt, einen Augenblick war es der Knecht Rupprecht, dann aber - jetzt sah ich ihn wieder ganz deut­lich vor mir - ein säbelrasselnder Polizist. Zwar versuchte ich noch mit mühsam gespielter Überlegenheit auf ein Schild mit der Aufschrift zu verweisen: "Polizeilich genehmigt". Aber der Wütende polterte darauf los: " Hallo, junger Mann, Sie räumen hier wohl aus?!"

 Ich fuhr tief erschrocken aus meiner Träumerei hoch und starrte fassungslos einem leibhaftigen Polizisten ins Gesicht, der, verschneit und von der Kälte gerötet nicht in der Lebkuchenhöhle, nein wirklich und leibhaftig in der Tür des Buchladens stand.

Indem meine Sinne sich mit heftiger Anspannung bemühten, aus den Tiefen des Wundertraumes an die Oberfläche des wirklichen Augenblicks empor zu klimmen, gelang es mir wenigstens, der Erscheinung dort in der Türe zu antworten!

 "Nein, Herr Wachtmeister, hier wird nicht aus-, hier wird eingeräumt."

Der hatte wohl unterdessen die Lage übersehen, seine bedrohliche Miene verwandelte sich. Vielleicht auch angelockt durch die Wärme trat er ein, schloß die Tür hinter sich und betrachtete teilnehmend den Fortgang meiner Arbeit, die ich schnell wieder aufgenommen hatte. Denn es war ja wirklich schon lange, wie mein unheimlich-heimlicher Gast bemerkte, die Polizeistunde vorüber. Als ich soweit gekommen war, daß ich nur noch von der Straße aus den rechten Stand der Bücher­gruppen zu überprüfen hatte und dazu aus dem Schaukasten heraussteigen wollte, erklärte mein Zaungast eifrig: "Das übernimmt die Polizei."

Schon hatte er draußen einige Meter gegenüber dem Schaufenster Posten ge­faßt, ich zeigte auf die einzelnen Bücher und er kommandierte schallend durch die nächtliche verschneite Straße: "mehr links - mehr rechts, mehr nach vorn - zurück", bis alles richtig stand. Als ich nun selbst zum Schluß auf die Straße hinaustrat um mein Werk anzuschauen, empfing er mich fröhlich mit dem Zuruf: "So, das hätten wir wieder einmal ge­schafft." Aller Grimm war verflogen.

Dennoch hatte ich, bevor wir nun unserer Wege gingen, eine Bitte an ihn, der ich dennoch die ganze Zeit zwischen Traum und Wikrlichkeit hin und her geschwankt hatte. Er erfüllte sie mir leutselig. So kam es, daß mein Lehrherr, als er am Morgen mein nächtliches Werk wohlgefällig betrachtete, zu seiner höchsten Verwunderung im Tannen­grün ein Schildchen entdeckte "Weinnachtsausstellung polizeilich ge­nehmigt" mit der markigen Unterschrift eines Polizeiwachtmeisters. Den letzten Hintergrund dieses Dokumentes hat er freilich niemals erfahren.